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Freiheit oder die Anfänge einer Erziehung

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Im Vergleich zu vielen Leuten, die ich so kenne, würde ich mich als nicht besonders mobil bezeichnen. Wir haben kein Auto, und ich fahre nicht gerne Fahrrad. Der Gedanke an einen Kinderfahrradsitz verursacht mir Schweißausbrüche. Ich gehe sehr viel zu Fuß. Wir können uns nicht mal eben ins Auto setzen und einen Ausflug machen, sondern sind an die öffentlichen Verkehrsmittel gebunden. Wir haben außerdem einen blinden, alten Hund, den man für Urlaube nicht mal eben locker abgeben kann. Viele Unternehmungen sind mit einem gewissen Aufwand verbunden, weshalb ich nicht so oft mit Ausflügen an Badeseen, in den Grunewald oder sonstwas dienen kann.
Wir leben in einer kleinen Wohnung und haben aus Platzgründen keine Spülmaschine. Wir überlegen uns bei Anschaffungen, auch fürs Kind, dreimal, ob sie nötig sind, schon allein, weil sie die Wohnung noch mehr vollstellen.

Auf eine Weise könnte man mich als in meiner Freiheit eher eingeschränkt wahrnehmen. (Dabei ist klar und muss hier bitte nicht diskutiert werden, dass zahllose Menschen in vielerlei Hinsicht unheimlich viel stärkere Einbußen ihrer Freiheit erleben) Aber obwohl ich auch mal Andere um ihr Geld, ihre Besitztümer und sich daraus ergebende Möglichkeiten beneide, bin ich gerade an einem Punkt, an dem ich meine von materiellen Dingen eher unabhängige eigene Freiheit immer mehr zu schätzen weiß und auch mehr und mehr Wert darauf lege, diese für mich und meine Familie zu erhalten und zu erweitern.

Ich habe angefangen, zwischen äußerer und innerer Freiheit zu unterscheiden. Dabei würde ich die äußere Freiheit als sich vorwiegend aus materiellen Dingen ergebende Möglichkeiten definieren, und die innere als eher immateriell: zum Beispiel Zeit, Gelassenheit, Bildung, auch Muße.
Wenn ich sagen kann, dass es mir gut geht, dann hat das vor allem mit innerer Freiheit zu tun.

Ich arbeite jetzt mit meinem Mann zusammen. Ich kann mir meine Arbeitszeit frei einteilen, mich mit dem mir am nächsten stehenden Erwachsenen absprechen, besprechen, austauschen. Wir arbeiten zusammen für eine gemeinsame Sache, für eine gemeinsame Gegenwart und Zukunft. Außerdem finde ich seit einigen Monaten wieder Zeit, wieder intensiv und viel zu lesen, was mir sehr viel bedeutet. Ich habe Zeit für mich, Zeit mit und für mein Kind, Zeit für meinen Mann (zu wenig noch, aber es wird besser).

Aber wenn es um Freiheit geht, denke ich natürlich nicht nur an meine eigene, sondern genauso auch an die meines Kindes. Klar denke ich darüber nach, ob dem Kind etwas fehlt, wenn wir nicht jedes Wochenende Ausflüge machen. Natürlich denke ich erstmal sofort “das muss mein Kind auch haben”, wenn ich ein tolles Spielzeug oder Fahrgerät erspähe. Das ist die materielle Seite. Ich arbeite daran, mich von äußeren Erwartungen diesbezüglich zu lösen. Zum Beispiel weil ich gesehen habe, dass das Kind am Strand überaus begeistert mit bloßen Händen in den von mir angeschleppten Steinhäufchen rumgrub und ständig “mehr, mehr” rief. Auf meinem Arm im Wasser planschte und die langweiligen kleinen weißen Muscheln total toll fand. Dass es stundenlang die Rutsche auf dem Spielplatz rauf und runter johlt, ohne sich eine Sekunde darüber zu langweilen, dass es immer die gleiche Rutsche ist. Im Gegenteil, ich habe den Eindruck, je sicherer sich das Mädchen auf “seinem” Spielplatz fühlt, desto mehr Spaß hat es. Ich beobachte, dass “viele Sachen haben” wirklich nicht mit mehr Zufriedenheit und weniger Rumjammern zu tun, erst recht nicht bei Kindern.

Was die Beziehung zu meinem Kind angeht, ist Freiheit etwas, was ich mir früher nicht oder jedenfalls sehr wenig erlaubt habe. Ich bemerke, dass ich jetzt immer mehr bereit dazu bin, Freiheit in unserer Beziehung zuzulassen, was aber nicht nur mit meiner Einstellung, sondern auch mit dem Alter des Kindes (19 Monate) zusammenhängt. Das Kind abgeben zum Beispiel, sei es in der Kita, sei es bei Oma, einer Freundin, meiner Schwester etc. und nicht unentwegt darüber zu grübeln, “ob das wohl gut geht”. Das tut uns beiden gut, und diesbezüglich gibt es noch eine Menge Spielraum nach oben. Das Kind fängt auch an, sich selbst zu beschäftigen. Ich kann das zulassen und fordere das zunehmend auch. Ich versuche, mir nicht mehr ständig den Kopf darüber zu zerbrechen, ob ich heute genug für mein Kind getan habe, liebevoll genug war, es gefördert habe, ihm etwas geboten habe usw. Wir fangen an, einen gemeinsamen Alltag zu haben, den wir mehr und mehr nach unser beider Bedürfnissen gestalten können. Das bedeutet, dass meine Bedürfnisse neben denen meiner Tochter Gewicht bekommen. Aber es heißt auch, dass ich das berühmte “Nein” sagen lerne und ein “Nein” nicht mehr -wider besseres Wissen freilich- als seelische Grausamkeit am Kind empfinde. Ich lerne, dass Freiheit auch in der Erziehung nicht Entgrenzung meint, sondern sogar viel mit Grenzen setzen und Grenzen wahren zu tun hat. Kurz gesagt, ich übe mich in Gelassenheit. Und es klappt ganz gut.

Und während ich so über unser alle Freiheit hier in der Familie nachdenke, wird mir auch bewusst, dass damit, dass Freiheit zu einer Sache wird, die in der Familie verhandelbar ist und verhandelt werden muss – dass wir damit längst von der hauptsächlichen Pflege- in die Erziehungsphase hinübergeglitten sind. Noch vor einigen Monaten habe ich immer überlegt, wie Eltern so abgeklärt und klar von ihren Erziehungsgrundsätzen sprechen. Erziehung war für mich ein schwammiger Begriff, den ich mir zum Beispiel nicht von den einschlägigen Ratgebern und den aktuell hippen Ratgebenden diktieren lassen wollte. Ich hatte keine klaren Vorstellungen davon, was ich meinem Kind beispielsweise an Werten mitgeben will, oder welche Prinzipien ich verfolgen will, wenn überhaupt. Ich hätte mir auch gar nicht vorstellen können, über Erziehung zu schreiben.

Und ganz unbemerkt, durch das persönliche Reifen meines Kindes, das Wachsen und Kindwerden meines Babies, durch den Kontakt mit anderen Eltern und Kindern, durch einen neuen Blickwinkel in der Wahrnehmung insgesamt, kristallisieren sich einzelne Elemente von etwas heraus, was ich später mal als meine Erziehungsweise bezeichnen werde. Teil 1: Freiheit.

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